Freitag, 20. Juli 2012

Der Moment

[Dies ist eine Kurzgeschichte und damit ein Genre, in dem ich weniger geübt bin. Ich bitte um Nachsicht.]
Ich stehe in einer Warteschlange eines Supermarktes an. Es könnte jeder Supermarkt in Deutschland sein. Der Piepton des Kassenscanners markiert, einem EKG gleich, den Herzschlag des Geschäfts. Die müde dicke Verkäuferin mit den orange-rot gefärbten Haaren zieht - selbst wie eine Maschine - Artikel über das Band. Es ist bereits Abend und man kann es den Menschen vor und hinter mir ansehen. Ein junger Mann mit schütterem Bart in schwarzer Kleidung hat vor mir sechs große Büchsen mit Nudelsuppe auf das Warenband gelegt. Er spielt auf seinem Mobiltelefon, während sein Mittagessen der kommenden Woche Zentimeter um Zentimeter nach vorne rückt. Hinter mir versucht eine übernächtigte junge Mutter mit schwarzgelockten Haaren ihre kleine Tochter auf dem Arm zu halten, während die Kleine die Anordnung der Artikel in Unordnung bringt. Die Mutter  legt sie seufzend über die andere Schulter, und die Aufmerksamkeit des Kindes wendet sich den Kaugummis zu. Vor dem schwarz gekleideten Computerfreund steht ein türkisches Ehepaar. Der Mann, dessen graue Haare unter einem weißen Mützchen hervorschauen, muss etliche Jahre älter sein als seine Frau, die den Wagen schiebt und dann und wann ordnend Zwiebeln, Knoblauch, Seife oder Kartoffeln neu sortiert. Zwischen den Fingern dreht sie und einen Pfandschein. Ihr Mann stellt sich an die Brüstung kurz vor der Kasse. Sein graumelierter Schnurrbart wackelt hin und her, dann verschränkt er die Arme und sein Blick wandert streng und sinnend durch den Supermarkt. Beruhigend gleichförmig piept der Warenscanner unter den behänden Fingern der Angestellten. Sie fährt sich geistesabwesend durchs Haar, beiläufig. Ein Leberfleck auf ihrer Oberlippe zuckt zufrieden bei jedem Artikel, dessen Name auf der grünen Anzeige der Kasse aufblitzt. Ein Afrikaner läuft hilflosen Blickes durch die Getränkeabteilung, in seiner Hand ein Beutel mit unbestimmtem Inhalt. Indessen haben die beiden Männer an der Kasse, sie müssen in etwa 30 Jahre alt sein, ihre gute Mühe damit die erfassten Artikel wieder in den Wagen zu sortieren, der sich bereits beträchtlich gefüllt hat. Abwechselnd und harmonisch wie Noten einer Symphonie greifen sie nach den Taschentüchern, Teigwaren, Gewürzen, Äpfeln, Eiern, Getränken und allem anderen, was die Kassiererin mit geübtem Griff in Windeseile über die piepende Glasfläche vor ihrer Brust gleiten lässt. Schließlich kommt das Band zum Stehen und ein schier endlos langer weißer Zettel windet sich aus dem kreischenden Kassendrucker. Die Kassiererin pflückt ihn mit ihren spitzen Fingern, in einem Akt der Erhabenheit verkündet sie den den Preis. Einer der beiden Männer (der mit den schwarzen Haaren) zieht eine lederne Geldbörse aus seiner Tasche und beginnt darin zu suchen. Indessen schiebt der andere (mit den braunen Haaren) den Wagen an einen kleinen Tisch hinter der Kasse und packt leere Beutel und Taschen aus. Die beiden könnten Brüder sein, oder vielleicht wohnen sie in einer WG, oder sie feiern an diesem Tag eine Party mit Freunden. Inzwischen hat sich das Band wieder in Bewegung gesetzt unter den ungeduldigen Blicken des türkischen Schurrbartträgers, dessen Frau nun emsig weitersortiert, in einer Hand das Portemonnaie haltend. Der krausbärtige Spielefreund vor mir entlockt seinem Gerät belohnende Kakophonien, während seine Suppenbescherung unbeeindruckt hin und her schaukelt. Derweil prüft der schwarzhaarige Mann hinter der Kasse konzentriert den schier unendlichen Kassenzettel, mit dem Finger jeden Listenpunkt abfahrend. Sein Gefährte beginnt damit, den Einkauf in Tüten zu verstauen. Die türkische Kundin wirft die letzte Packung in ihren Einkaufswagen und streckt der Kassiererin eine bunte Plastikkarte entgegen. Diese reibt sie gegen ihren roten Anzug und schiebt sie in den Kartenleser. Wieder piept es. Indessen schaut der türkische Gatte ungeduldig zum Ausgang. Der junge Mann, ich nenne ihn inzwischen den "Dunklen" und den anderen den "Hellen", verstaut den ewigen Zettel in der Hosentasche und geht um den Hellen herum zu seinem Einkaufswagen. Dabei streicht seine Hand sanft über die Rückentaille des Hellen, wo sie ganz kurz verweilt. Also ist es Liebe, denke ich. Keiner nimmt den Moment der Nähe wahr, schon stehen die beiden jungen Männer nebeneinander und nehmen die Tüten aus den Pappverpackungen, um Platz zu sparen. Die Türkin hat sich zwischenzeitlich zur Kassiererin für eine Unterschrift gebeugt und eilt - den Wagen vor sich her bugsierend - ihrem Mann zum Ausgang hinterher. Der Krausbärtige vor mir schreckt aus seinem Spiel auf, die Kassiererin hat eine Frage an ihn gerichtet. Er kratzt sich die Wange. Ob das alles sei, oder ob noch etwas dazukomme, will die Verkäuferin mit Nachdruck von ihm wissen. Er schüttelt verneinend den Kopf und stellt die Büchsenreihe zurück in den Wagen. Dann bezahlt er. Ich bin an der Reihe. Als ich den Supermarkt verlasse, komme ich noch einmal an den beiden jungen Männern vorbei. Der Dunkle setzt dem Hellen den Rucksack auf. In meinem Gedächtnis ruht eine Erinnerung, unscheinbar wir ein uneingelöstes Pflaschenpfandzettelchen. Der Moment einer Zuneigung.

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