Sonntag, 21. Februar 2016

"Wir sind das Volk"?

Ich komme mir neuerdings so vor, als säße ich im falschen Film. Es ist, als stünden Teile meiner Landsleute und europäischen MitbürgerInnen unter den ganz harten Drogen. "Wir sind das Volk", so dröhnt es hohl und dumpf aus heiseren Kehlen in die kalte Nacht, wenn gegen die Unterbringung von AsylbewerberInnen "protestiert" wird. Ich denke mir: 'Na, wenn ihr das Volk seid, dann gute Nacht.' Denn nein: Ihr seid NICHT das Volk. Ihr seid der Pöbel, der Kaffeesatz der Gesellschaft. Das Pack, wie Sigmar Gabriel es nennt - mag man von ihm halten, was man will.

Ihr habt Angst vor Überfremdung? Ich auch, denn ihr seid mir sehr sehr fremd. Lachend neben einer brennenden Asylunterkunft stehend... wer seid ihr? Ich erkenne euch nicht, und eure Gesinnung erst recht nicht. Aber statt euch einfach mit einem Flugzeug in die Pampa abzuschieben, muss ich eure Blödheit und euren Hass ertragen. Das sind für mich die harten Kompromisse in einem Rechtsstaat. Es ist jener Rechtsstaat, um den vor gut 25 Jahren die Menschen unseres Landes gekämpft haben, als aus "Wir sind das Volk" das "Wir sind ein Volk" wurde. Leider darf ich bei den enthirnten Grölern dieser Tage schwer bezweifeln, dass sie die Liebe zu diesem Rechtsstaat teilen.

Deswegen steht es ihnen auch nicht zu, die Worte "Wir sind das Volk" in den Dreck zu ziehen. Wenn sie das Volk wären, dann würden sie für diesen Rechtsstaat kämpfen! Statt Flüchtlingsunterkünfte abzufackeln (die wir alle bezahlen, weil sie eine Aufgabe unseres Rechtsstaates sind) könnten sie einfach wie gewohnt weiterleben, oder die Neuankömmlinge z.B. bei Behördengängen begleiten und ihnen demonstrieren, welche Errungenschaften unser Land auszeichnen. Aber nein, das ist natürlich zu viel verlangt. Deswegen betätigen sich die, die sich als "Volk" bezeichnen, als "Antivolk" - als Gegner des Rechtsstaates. Sie behindern den Rechtsstaat in den Aufgaben, die er von Rechts wegen wahrnimmt. Sie zünden Unterbringungen an und behindern Staatsangestellte. Sie beschimpfen und erniedrigen Politiker und Politikerinnen, die rechtsgültig und demokratisch von den Bürgern und Bürgerinnen zur Regierung gewählt wurden. Das ist ein Schlag ins Gesicht der gesellschaftlichen Mehrheit. Denn wenn irgendjemand das Recht hat, sich als "das Volk" zu bezeichnen, dann ist es jene oft stimmlose Mehrheit an Menschen, die diesen Rechtsstaat erhalten, mitgestalten, und sich für ihn einsetzen. Die Dumpfbacken mit Hassneurose sind es nicht.

Ich sehe nicht ein, warum ich mir von so einer blöden Minderheit ins Gesicht spucken lassen muss. Es ist unsere Regierung, und sie ist rechtens, es sind unsere Grundwerte, und sie sind hart erkämpft. Deswegen entscheidet der Bund über Asylanträge - und nicht der Mob! Wie peinlich kann es denn noch werden, wenn die von der großen Mehrheit (!) der Bevölkerung gestützte Kanzlerin erwähnen muss, dass "dieses Land nicht [ihr] Land" sei, wenn es kein menschliches Gesicht an den Tag legen kann? Muss man sich neuerdings dafür schämen, ein Gewissen zu haben?

Hört das Morden und Sterben der Welt denn auf, weil wir Zäune bauen? Kann es uns allen ernstes besser gehen, wenn die Menschen in einem Elendsghetto vor der türkischen Grenze umkommen? Wir können Zahlen erfinden, aber das Problem verändert sich dadurch nicht. Dabei hätten wir die Mittel, etwas zu tun!

Denn nein, wir müssen keinen Erdogan als Verbündeten anheuern. Dieser Mann, wäre er ein deutscher Politiker, säße längst im Knast! Wie können wir glauben, dass ein narzistisch gestörter Autokrat seines Kalibers ein Eckpfeiler der Asylpolitik sein könnte? Jeder Euro, der dort investiert wird, finanziert sein doppelgesichtiges Unrechtssystem und löst Null-Komma-NICHTS.

Waffengewalt und Militäreinsatz im Nahen Osten? Unsinn! Kein Konflikt der großen weiten Welt wurde jemals mit Waffen gelöst. Krieg und Gewalt sind immer Teil des Problems - aber niemals ein Teil der Lösung. Sparen wir uns das Geld für das, was wirklich funktioniert. Hören wir auf, zwielichtige Verbrecher wie die Türkei und Saudi Arabien auch noch zu hofieren! Sie sind Teil des Problems - aber nicht der Lösung. Wie kann es sein, dass wir ihnen Rüstungsgüter exportieren? Sind wir hirntot?

Europa hätte theoretisch ohne weiteres das Potential dazu, ALLE Flüchtlinge Syriens unterzubringen, wenn es sich als Wertegemeinschaft versteht und seine Möglichkeiten nutzt. Stattdessen: Nationalistische Spacken an allen Fronten. Jedes noch so poplige Mitgliedsland glaubt, es wäre der Nabel der Welt. Hier die Neuigkeit für jede einzelne europäische Nation: Ihr seid ein Fliegenschiss auf der globalen Landkarte - kommt endlich damit klar.

Der inner-europäische Nationalismus der Teilstaaten ist eine katastrophale Dummheit, für die uns unsere Enkelkinder einmal zurecht verachten werden. Europa steht für Werte. Meinungs- und Pressefreiheit, politische und gesellschaftliche Teilhabe aller, Zusammenarbeit, Schutz von Minderheiten, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Trennung von Religion und Staat, Gleichberechtigung von Mann und Frau, unveräußerliche Menschenrechte, und so weiter und so fort. Die Nation hilft uns einen Dreck dabei, das zu verteidigen und zu vertreten, denn die Nation denkt nur an ihre kleinliche Identität. Wem haben wir den anhaltenden Frieden auf unserem Kontinent in den letzten Jahrzehnten zu verdanken? Der Nation? Nein, der inner-europäischen Verständigung.

Deswegen interessiert es mich nicht, ob ihr das Volk seid, oder nicht (abgesehen davon: Ihr seid es nicht!) - denn der Begriff "Volk" an sich interessiert mich nicht. Die "Nation" kann die Welt und mich am A**** lecken. Was mich interessiert ist, ob ihr meine Werte teilt! Glaubt ihr an Demokratie, an menschliche Politik, an Grundwerte, an Gleichberechtigung, an den Schutz der Schwachen? Dann seid ihr für Europa. Glaubt ihr an Grenzen, an Zäune, an "Überfremdung"? Dann herzlich willkommen: Ihr seid die Hauptdarsteller in dem schlechten Film, der hier läuft.

Der reichste Kontinent der Welt ist mehr als in der Lage, den Herausforderungen unser Zeit zu begegnen. Es ist - wie immer - nur eine Frage des politischen Willens. Leider vermisse ich den - schon wieder sitze ich irgendwie im falschen Film. Aber was schreibe ich von "Willen": Die hohlen Dumpfbacken von "besorgten Bürgern", [irgendwas]GIDA und AFD und Co. haben keine Ahnung, was sie wollen, sie laben sich nur an ihrem ungezügelten Hass, denn der beschert ihnen ein angenehmes Gefühl. Sie lernen nicht aus der Vergangenheit, sie wiederholen die Fehler ihrer Großeltern und Urgroßeltern und Ururgroßeltern... Es ist zum Kotzen. Ich würde so gerne umschalten, aber ich sitze in diesem beschissenen Film.

Meine Hoffnung ist, dass ich in diesem Kino nicht alleine bin, und dass da draußen noch viele andere sind, die diese possenhafte Aufführung kopfschüttelnd ansehen, um dann das Geld für ihre Kinokarten zurückzufordern, den Saal verlassen und für ein Europa der Werte einstehen. Denn die Menschen, die da zu uns strömen, müssen genau das hier finden. Und wenn wir noch bei Trost sind, dann setzen wir uns dafür ein.